Achtsamkeitspraxis und ‚Gewahrsein‘
Was ist eigentlich dieses komische „Gewahrsein“?
Oje, jetzt wage ich mich aber weit vor und habe gerade ein wenig Angst vor meinem eigenen Mut. Denn es ist schwierig bis unmöglich, diesen Zustand des Gewahrseins jemandem zu erklären, der ihn noch nicht selbst erlebt hat.
Ok, ich registriere, dass ich dabei ein etwas mulmiges Gefühl habe und akzeptiere dieses Gefühl als Phänomen meines Geistes. Daneben bemerke ich noch ein anderes Gefühl: Neugier gepaart mit leichter Anspannung. Ich darf versuchen, dir zu erklären, was Gewahrsein ist und bin gespannt, ob und wie mir das gelingen wird. Also entscheide ich mich dafür, den Versuch zu unternehmen.
Gewahrsein im Buddhismus – bildliche Allegorien
Beginnen wir mit ein paar bildlichen Vorstellungen, die im der buddhistischen Tradition verbreitet sind.
Es geht dabei um den Geist und seinen Charakter. Der Geist wird von Natur aus als ruhig, weit und klar angesehen. Alles, was in diesem Geist auftaucht, also zum Beispiel Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen, innere Bilder und so weiter sind Phänomene dieses Geistes.
In der Meditation versucht nun also dieser Geist, seine eigenen Phänomene zu beobachten und ihr Entstehen und Vergehen, Kommen und Gehen wahrzunehmen. Und sie dabei als das zu sehen, was sie sind, nämlich eben Phänomene des Geistes, nicht mehr und nicht weniger.
Dazu möchte ich dir nun drei verschiedene bildliche Vorstellungen zeigen:
- 1. Der Geist ist der weite, wolkenlose Himmel, an dem die geistigen Phänomene wie kleine weiße Wolken vorbeiziehen. Die Wolken entstehen und vergehen, doch der Himmel selbst bleibt davon unberührt, er bleibt immer der gleiche Himmel. Je weiter und klarer dein Geist im Laufe der Meditation wird, desto kleiner werden die Wolken und desto klarer wird der Himmel. Es werden immer weniger Wolken, die den klaren Himmel verdecken.
- 2. Der Geist ist wie ein Glas Wasser, dass du aus einem schlammigen Fluss schöpfst. Am Anfang ist das Wasser voller Schmutz und Fremdkörper, die es trüb machen. Wenn du das Glas ganz ruhig stehen lässt, setzen sich mit der Zeit alle Verunreinigungen ab und übrig bleibt obenauf das klare, saubere Wasser. Dein Geist ist wie dieses klare Wasser, wenn du ihn in der Meditation ganz ruhig werden lässt und von allen Störungen befreist. Wenn du das Glas aber nur ein bisschen bewegst, wird das Wasser sofort wieder trüb. So wie dein Geist, wenn du in der Meditation stark abgelenkt wirst oder dauernd herumzappelst.
- 3. Der Geist ist wie ein tiefer, stiller Ozean. Die Wellen an seiner Oberfläche sind die Phänomene des Geistes. Sie sind manchmal extrem wild wie eine stürmische See und manchmal kräuselt sich die Oberfläche nur leicht. Doch die Wellen beeinflussen nicht die Natur der Ozeans. Unter der Oberfläche ist er immer ruhig, still und friedlich. Je weiter und klarer dein Geist in der Meditation wird, desto weiter nach unten sinkst du in diesem Ozean, bis du die Wellen an der Oberfläche nur noch als schwaches Echo wahrnehmen kannst.
Gewahrsein in der Meditation
Weite und Klarheit im Geist
Irgendwann während der Meditation kommst du also (vielleicht) an den Punkt, an dem dein Geist diese Weite und Klarheit erreicht. Deine Gedanken und andere Phänomene des Geistes verlieren dann immer mehr an Bedeutung, du nimmst sie nur noch wie aus weiter Ferne und undeutlich wahr. Sie treten in den Hintergrund und machen Platz für die wahre, klare und ruhige Natur deines Geistes. In diesem Moment fühle ich persönlich eine unglaubliche Weite und einen absoluten Frieden. Ich bin gleichzeitig stark im Körper präsent und bin doch so viel mehr als mein Körper. Ich habe das Gefühl von purem Bewusstsein, wenn ich ins Gewahrsein falle. Ich bin leicht wie eine Feder und doch stark in der Erde verwurzelt. Es ist ein schwer zu beschreibendes, aber absolut wunderbares Gefühl.
Klingt ziemlich abgehoben? Ja, das tut es. Und tatsächlich fühlt es sich für mich ein bisschen nach „abheben“ an.
Eins kann ich dir versichern: Wie immer es sich für dich anfühlt, du wirst es merken, wenn du ins Gewahrsein fällst.
Absichtslosigkeit und Gewahrsein
Doch ich muss dich auch etwas enttäuschen: Dieser Zustand lässt sich nicht bewusst herbeiführen. Auch ich erlebe ihn bei weitem nicht in jeder Meditation. Vor allem dann nicht, wenn ich mit Vorfreude und Erwartung auf genau dieses Gewahrsein in die Meditation hineingehe. Das ist ja das „Gemeine“ an der Meditation: sie ist absichtslos und wir erleben nur dann Erstaunliches, wenn wir nichts erwarten und nach nichts streben. Also wie immer: offen, neugierig und geduldig unseren Geist erforschen und einfach wahrnehmen, was passiert. Hier kommt übrigens wieder einmal das Prinzip des „Nichtanhaftens“ zum tragen. Wenn du den Zustand des Gewahrseins, der beim letzten Mal soooo schön war, unbedingt wieder haben willst, wirst du ihn in der nächsten Meditation wohl nicht bekommen.
Allerdings kann dir regelmäßiges Meditieren mit einer guten Anleitung durchaus dabei helfen, am Gewahrsein zu „schnuppern“, denn mehr wird es anfangs nicht sein als dieses Schnuppern.
John Kabat-Zinn vergleicht das Gewahrsein mit einem scheuen Reh, das ganz vorsichtig sein Näschen am Waldrand aus dem Dickicht streckt. Du kannst es beobachten, wenn du geduldig und ruhig bist. Doch bei der kleinsten Störung verschwindet es sofort wieder im Gebüsch.
In meinen Kursen zeige ich dir den Weg, um am Gewahrsein zu schnuppern.
Und nun zum Abschluss: Rate mal, welches Bild des Geistes mir am besten gefällt?