Achtsamkeit-Jenseits von gut und schlecht
Mein Lieblingsgedicht zum Thema Achtsamkeit stammt von dem persischen Mystiker Rumi. Es lautet in etwa so:
Jenseits von richtig und falsch liegt ein Feld
Dort warte ich auf dich
(Rumi)
Es gibt viele verschiedene Übersetzungen. Mal heißt es „richtig und falsch“, mal heißt es „gut und schlecht“. In einigen Versionen heißt es nicht „Feld“ sondern „Ort“. Statt „dort warte ich auf dich“ heißt es auch „dort werden wir uns wiedersehen“. Doch wie auch immer die Übersetzung lautet, die Bedeutung ist tiefer, als es diese beiden kurzen Sätze vermuten lassen.
Achtsamkeit auf einem Feld?
Jenseits von richtig und falsch, von gut und schlecht, von angenehm und unangenehm liegt also ein Feld. Aha, das ist ja interessant. Doch wieso liegt das Feld jenseits dieser Begriffe? Wieso wartet dieser Rumi dort auf mich? Und wie ist er dorthin gekommen? Weiß er etwas, das ich noch nicht weiß?
Denken in Schubladen
Oh ja, und ob er das tut. Er hat verstanden, dass alle Bewertungen, die wir Menschen so gerne abgeben, unseren Geist stark einengen. Wir stecken alle Erlebnisse und Personen nur allzu gerne in Schubladen mit der Aufschrift „gut“ oder „schlecht“, „falsch“ oder „richtig“, „angenehm“ oder „unangenehm“. Diese Schubladen haben wir im Laufe unseres Lebens, meist schon in unserer Kindheit, angelegt und wir beherrschen es perfekt, sie in Windeseile zu öffnen und alles, was uns begegnet, darin verschwinden zu lassen. Und ist etwas erst einmal in einer Schublade, kommt es da nicht mehr raus. So nehmen wir uns die Möglichkeit, Erlebnisse in einer offenen Geisteshaltung begutachten zu können. Wir werden zu Sklaven unserer Denk- und Verhaltensmuster, denn alles folgt dieser Regel, die wir tief verinnerlicht haben. Jedes Ding ist entweder gut oder schlecht, richtig oder falsch.
Gier und Hass
Der nächste logische Schritt ist, dass wir die Dinge, die (in unserer Vorstellung) richtig und gut sind, haben möchten und die Dinge, die falsch und schlecht sind, nicht haben oder loswerden wollen. So entsteht der Kreislauf von Gier (haben wollen) und Hass (loswerden wollen), der laut den buddhistischen Lehren die Grundlage für alles Leid in der Welt bildet.
Das Prinzip der Achtsamkeit
In der Achtsamkeitspraxis lernen wir, das zu ändern. Wir lernen, unangenehmen und angenehmen Dingen in der gleichen freundlichen, nicht-wertenden Geisteshaltung zu begegnen. Wir üben uns darin, angenehme Dinge loszulassen und unangenehme Dinge anzunehmen und ihnen Raum zu geben.
Je öfter uns das gelingt, desto mehr sind wir in der Lage, die Schubladen in unserem Kopf geschlossen zulassen. Und besser noch, die Schubladen zu öffnen, um Dinge herauszuholen und neu einordnen zu können.
Neue Möglichkeiten durch Achtsamkeit
So gelangen auch wir auf dieses Feld, das jenseits von richtig und falsch liegt. Diesem Feld der neuen, unbegrenzten Möglichkeiten. Rumi wartet dort auf uns, und das schon seit einigen Jahrhunderten. Er schreibt nicht, dass wir uns beeilen sollen und auch nicht, wie lange er dort warten wird. Er wartet einfach so lange, bis wir kommen. Denn auch das hat er erkannt: Denkmuster lassen sich nicht auf Knopfdruck ändern. Jeder Mensch geht seinen ganz individuellen Weg, der ihn zu diesem Feld führt. Doch Rumi ist optimistisch, dass wir es schaffen. Denn er sagt auch: „Dort werden wir uns wiedersehen“